konrad kirsch
adam anatomie anthropozän roland barthes batman begins walter benjamin ein bericht für eine akademie ambrose bierce the birds blade runner die blendung sandro botticelli georg büchner william s. burroughs elias canetti cinderella dantons tod the dark knight the dark knight rises julia ducournau dunkirk blake edwards das erdbeben in chili eva faust following sigmund freud geburt der venus gladiator giordano bruno florian henckel von donnersmarck hermeneutik alfred hitchcock thomas hobbes homer hypertextualität inception insomnia interstellar intertextualität jakob von gunten james bond franz kafka king kong heinrich von kleist klimakatastrophe das kunstwerk im zeitalter seiner technischen reproduzierbarkeit das leben der anderen lebensphilosophie lenz leonce und lena lost highway david lynch man of steel michael mann masse und macht memento mulholland drive neoliberalismus friedrich nietzsche dr. no no time to die christopher nolan an occurrence at owl creek bridge die odyssee the odyssey oppenheimer pandora the party platon edgar allan poe the prestige quantentheorie romeo and juliet jean-jacques rousseau stefan ruzowitzky ridley scott william shakespeare skyfall solaris sophokles emanuel swedenborg andrei tarkowski tenet thief titane der tod des autors der tod gottes das unbehagen in der kultur der verschollene robert walser max weber woyzeck
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»In all, Kirsch has provided a superlative model for assessing the divisions of contemporary film thematics. […]
This volume is a useful, perhaps indispensable, contribution to the wider postmodernist debate pursued in film, a field still barely represented in recent museum and gallery exhibitions: but it is now humming for sure with both students and schools, in this world of instant electronic referencing and accessibility to other precedent and text.«
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Veröffentlichungen
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In Vorbereitung:
Über Titane von Julia Ducournau
(Arbeitstitel)
konrad kirsch verlag
eBook
ISBN 978-3-929844-39-9
Auf der Internet Movie Cars Database findet sich ein kurzer Austausch zu Titane. Userin ›Pedal Cat‹ schreibt am 2022–04–04 um 19:42:
»The car is part of a car show with women stripping and dancing on cars. After [the show] one of the strippers killed a guy in her car, she showers in the show room area and the car calls to her. She has sex with it and it bounces wildly up and down. She gets pregnant from this, which begins the storyline of the movie«.
Wenige Minuten später ergänzt ›Pedal Cat‹:
»Dancing with the car scene is from 6:06–8:42
sex with car scene lasts from 14:57 to 17:04
I would argue that deserves 5 stars but I’m new here«.
›Skid‹ schreibt am 2022–04–06 um 05:16:
»The combination of grille and emblems on the front turn lights suggests it’s a 1984 Coupe Deville or Fleetwood Brougham coupe, or a 1985 Fleetwood Brougham coupe. From the upholstery in the main image, I believe it to be a 1984 Coupe Deville with the D’elegance package«.
›Pedal Cat‹ postet am 2022–04–12 um 08:02:
»It’s bugging me that the car is the father of her baby and it’s not getting 5 stars«.
›JB‹ entgegnet am 2022–06–28 um 01:09:
»Sorry, but for me, it deserves 3 stars and not more, I leave it up to an administrator to modify or not«.
Aktuell ist Titane auf der IMCDb mit vier von fünf Sternen bewertet. Doch es mag ›Pedal Cat‹ etwas versöhnlicher stimmen, dass Ducournaus Film 2021 mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, dem Hauptpreis der Filmfestspiele von Cannes.
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Aus dem Text:
Vorbemerkung
Für das kommende Jahr ist Christopher Nolans nächster Film angekündigt. Es wird spannend sein zu sehen, ob auch The Odyssey auf dem Skript der Zaubertricks basiert, das Nolan in seinen Filmen seit Insomnia variiert, wie in diesem Beitrag dargelegt wird. Einerseits handelt es sich bei dem antiken Stoff abermals um eine neue Epoche und ein neues Genre in seinem filmischen Werk. Andererseits klingt die griechische Antike bereits in Nolans letztem Film, Oppenheimer, mit dem Ausdruck »American prometheus« an. Vor allem aber weist Homers Odyssee eine Mischung aus Realismus und Phantastik auf, die Nolans Werk kennzeichnet und die sich, wie gezeigt werden wird, mit dem Begriff Slipstream fassen lässt.
Wie in vielen Filmen Christopher Nolans geht es auch in dem antiken Epos um die Rückkehr in die Heimat. Odysseus‘ Irrfahrten würden zu der geheimnisvollen Reise passen, die ein zentraler Bestandteil des Zaubertrick-Skripts von Nolan ist, insbesondere, dass Odysseus in die Unterwelt hinab- und wieder in die Welt der Lebenden aufsteigt.
Der Stoff steht ebenfalls in Beziehung zu einem weiteren Aspekt von Nolans filmischem Werk: Der Odyssee geht der Trojanische Krieg voraus; zu ihm kommt es, weil sich Gaia, die Göttin der Erde, bei Zeus beschwert, dass die Anzahl der Menschen, die auf ihr wandeln, so groß geworden sei, dass sie ihr schadeten. Um der Erde Abhilfe zu schaffen, initiiert Zeus das große Schlachten vor den Toren Trojas, wie es im Vorgesang der antiken Kypria heißt. Die Not Gaias lässt sich mit der Umweltzerstörung in Verbindung bringen, die seit The Dark Knight Rises in Nolans Filmen thematisiert wird.
Zudem handelt es sich bei dem listenreichen Odysseus erneut um eine Erfinderfigur, deren Apparate in Nolans Filmen zumeist Verderben bringen: Wie die Atombomben, die Oppenheimer konstruiert, Hiroshima und Nagasaki auslöschen, führt das Trojanische Pferd, das Odysseus ersinnt, zu dem Massaker an den Bewohnerïnnen Trojas.
Schließlich wird es spannend sein zu sehen, ob Christopher Nolan in The Odyssey abermals auf die Filme von Andrei Tarkowski anspielt. Hierfür würde sich Stalker (1979) anbieten, der – ähnlich den Irrfahrten von Odysseus – von der Wanderung durch eine mysteriöse Zone handelt.
Möglicherweise bricht Nolan aber auch mit der Poetik seiner bisherigen Filme und schlägt mit The Odyssey einen gänzlich anderen Weg ein. In jedem Fall ist für 2026 wieder ein großartiger Film von ihm zu erwarten.
Juni 2025
Für weiteres zu diesem Titel siehe den untenstehenden Eintrag.
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Auszug aus dem Text:
In seinen Filmen setzt David Lynch das Rätselhafte als Erzählstrategie ein. Das wirkt sich auf deren Rezeption aus.
Ein Rätsel besteht zumeist aus mehreren Teilfragen, deren Antworten einander nicht nur nicht widersprechen, sondern sich im Gegenteil sinnvoll ergänzen. So weit ich sehe, wurde weder für Mulholland Drive noch für Lost Highway ein schlüssiger Interpretationsansatz gefunden, sodass die Forschung über Einzelerkenntnisse bislang nicht hinausgelangt ist. Deshalb ist es keine selten anzutreffende Annahme, dass es gerade ihre Unergründbarkeit wäre, die Lynchs Filme ausmache. […]
Bereits dem Scherz, den Lynch in Mulholland Drive mit den Initialen seiner Hauptfiguren macht, liegt ein recht rationales Muster zugrunde: Adam, Betty, Camilla und Diane.
Ein gleichfalls scherzhaftes, aber vielschichtigeres Beispiel liefert die Sequenz, in der Camilla (Laura Harring) Diane (Naomi Watts) zu jener Villa führt, in der ihr Verlobungsdinner stattfindet. Die beiden Frauen gehen zu Fuß durchs Gelände, was in einer Autostadt wie Los Angeles eine Begründung erfordert; Camilla sagt daher zu Diane: »Eine Abkürzung. Komm, Süße. Es ist wunderschön. Ein Geheimweg – A secret path«. Neben dem wörtlich Gemeinten stellt Camillas Äußerung einen – allzu – offensiven Hinweis David Lynchs auf eine angeblich verborgene, ›geheime‹ Bedeutung dar.
Doch Mulholland Drive ist komplex, und eine andere »Abkürzung«, als jene konkrete, von der Camilla spricht, gibt es darin nicht. Gleichwohl hat die Sequenz eine zweite Ebene: Als Camilla auf dem Fußpfad vorangeht, trägt sie einen roten Schal, dessen Enden von ihren Schultern herabhängen. Auf diese Weise wird die englische Wendung für eine falsche Fährte legen in Szene gesetzt: to draw a red herring accross the path. Denn mit Camilla weist eine Figur den Weg, die in Form ihres Schals zwei zappelnde ›rote Heringe‹ über den »secret path« ›zieht‹ und deren Darstellerin Harring heißt.
Camillas Äußerung hat also eine metaphorische Dimension, die sich ironisch selbst konterkariert: Die ›geheime‹ Bedeutung ist die ›falsche Fährte‹. Indem die Sequenz auf sich selbst verweist, offenbart sie eine Zirkelstruktur, die, wie sich zeigen wird, noch weitere Elemente des Films prägt.
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Abstract:
Mulholland Drive handelt von Diane Elms, die eine erfolgreiche Hollywood-Schauspielerin werden will; als ihr Traum scheitert, nimmt sie sich das Leben. Nach ihrem Tod (!) erzählt Diane die Geschichte von sich als Betty mit Motiven des Märchenfilms Cinderella aus dem Jahr 1950. Der prinzenhafte Regisseur besetzt die Hauptrolle jedoch nicht mit Betty, sondern mit Camilla, welcher in Analogie zur Märchenfee ein verborgener Zirkel mit unlauteren Mitteln zu der Rolle verhilft. Durch das Casting erweist sich nicht Betty, sondern CamILLA als CIndereLLA-Figur, die mit der Hauptrolle auch die Liebe des ›Prinzen‹ bekommt und in die Film-Aristokratie aufsteigt.
Stattdessen scheinen DAN und DiANe füreinander bestimmt zu sein. Wie Diane hat Dan gleichfalls einen Traum; doch sein Traum ist ein Alptraum, und er wird mit der obdachlosen Gestalt hinter dem Diner Winkie’s ›real‹. In der blauen Box ist die Büchse der Pandora transformiert, in der diese die Übel bringt. Die beiden Aspekte der mythischen Pandora – Schönheit und Schrecken – verkörpern Camilla und die obdachlose Gestalt.
Die Filmhandlung folgt einer Kreisstruktur, die der Erzähllogik zu widersprechen scheint: Da sich Diane das Leben genommen hat, erzählt eine Tote Bettys Geschichte. Diese Konstellation rekurriert auf Roland Barthes‚ poststrukturalistischen Schlüsseltext Der Tod des Autors, der mit Diane als toter Erzählerin(-Figur) wörtlich genommen wird.
Als Spiel im Spiel präsentieren die Darbietungen im Varieté Silencio das Prinzip der Dekonstruktion, dem Lynch in Mulholland Drive das Märchen von Cinderella unterzieht. Nach dem »Tod des Autors« tritt nach Barthes an dessen Stelle der »Leser«; in Mulholland Drive steht für diese Rolle eine Varieté-Besucherin, während der ›tote Autor‹ durch das ikonische Mikrofon ersetzt wird, welches in Lynchs Film die Apparatur symbolisiert, die das Kunstwerk zur Aufführung bringt.
Darüber hinaus wird in diesem Beitrag dargelegt, dass die Feen-Episode in Cinderella Elemente weiblicher Selbstermächtigung aufweist, welche die Hochzeit mit dem Prinzen gemäß der patriarchalen Ideologie ›korrigiert‹. In einer Parenthese wird aufgezeigt, dass Taylor Swift als ›Pop-Prinzessin‹ das women’s empowerment mit Cinderella-haften Motiven verknüpft. Schließlich werden in Mulholland Drive etliche strukturelle, inhaltliche und motivische Elemente von Lost Highway transformiert.
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Abstract:
In seinen Filmen setzt David Lynch das Rätselhafte als Erzählstrategie ein. – Lost Highway bringt das Phantasma einer Flucht auf die Leinwand: Während Fred Madison auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wird, imaginiert er sein alter ego Pete Dayton. Dabei folgt Lost Highway der Struktur der Kurzgeschichte An Occurrence at Owl Creek Bridge von Ambrose Bierce, in der sich Peyton Farquhar seine Flucht ausmalt, obwohl er zeitgleich gehängt wird. Dessen Name ist dem von Freds alter ego eingeschrieben: PEYTON – PEte daYTON. Der gelbe Mittelstreifen des Highway, der den Film leitmotivisch durchzieht, referiert auf den Strick, an dem Peyton gehängt wird.
Freds Phantasie transformiert die Stromstöße in grelle Blitze, die den Film durchzucken, übersetzt seine Schreie in ein Freejazz-Saxophonsolo etc.
Mit der imaginierten Beziehung von Pete und Alice versucht Fred, seine Hinrichtung und den Mord an seiner Frau Renee ungeschehen zu machen. Als dies misslingt, verschiebt er den Mord von Renee auf seinen Nebenbuhler Dick Laurent. Doch am Ende des Films kann Fred dem Tod durch electrocution nicht entgehen: Statt am Lenkrad seines Wagens sitzt er auf dem elektrischen Stuhl, und die Lichtbögen der elektrischen Ladung sind in die blinkenden Polizeilichter transformiert, die ihn vermeintlich verfolgen. In dem Beitrag werden desweiteren die Funktion der subjektiven Kamera sowie die Rolle des mysteriösen Mannes geklärt und aufgezeigt, dass die Strip-Szene in Lost Highway strukturell eine Sequenz aus David Lynchs Blue Velvet wiederholt.
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Der Beitrag wurde erstmals 2011 in der Zeitschrift für deutsche Philologie veröffentlicht.*
Für die Neuerscheinung wurde er punktuell ergänzt.
Abstract:
Das Erdbeben in Chili ist ein Gedankenexperiment, in dem Heinrich von Kleist zwei unterschiedliche Gottesbilder miteinander kollidieren lässt und die Unangemessenheit religiöser Deutungen von realen Ereignissen zeigt. Das Beben fungiert dabei als Katalysator, der die konträren Positionen deutlich hervortreten lässt.
Die sich als christlich verstehende Gesellschaft von St. Jago verrät ihre Ideale, indem sie die zur Heiligen Familie Stilisierten erschlägt. Der Mord an Josephe, Jeronimo und ihrem (Adoptiv-)Kind rekurriert auf die Opferung Isaaks, wodurch die Bewohner von St. Jago hinter das jüdisch-christliche Verbot des Menschenopfers zurückfallen.
Die Rolle von Jeronimo und Josephe ist ambivalent: Einerseits bilden sie das Zentrum einer utopischen Gemeinschaft, andererseits ist ihr Selbstbild hybrisch, da sie sich selbst als Heilige Familie wahrnehmen, deren Rettung jedes noch so monströse Opfer rechtfertige. Ihre Selbsttäuschung verstärken die Liebenden zusätzlich dadurch, dass sie ihre Geschichte als trivialen Liebesroman erleben. Doch in einem grausigen, metatextuellen Spiel lässt der Erzähler sie statt vor dem Trau- auf dem Opferaltar enden.
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In The Earthquake in Chile, the failure of religious interpretations of real events is illustrated by two antagonistic groups. The earthquake functions as a catalyst that throws the opposing views into relief.
The society of St Jago which understands itself as Christian betrays its ideals by destroying the holy family. The murder of Josephe, Jeronimo and their (adopted) refers at the sacrifice of Isaac by which the inhabitants of St Jago regress behind the Jewish-Christian taboo on human sacrifices.
The role of Jeronimo and Josephe is ambivalent: on the one hand they form the center of the utopian community, on the other their self-perception is not free from hybris because they regard themselves as the holy family whose survival justifies even monstrous actions. The lovers‘ self-delusion is exacerbated by the fact that they also perceive their story as a trivial love affair. But in a gruesome meta-textual game the narrator leads them to the altar of sacrifice rather than marriage.
* Vf: Die Gesellschaft von St. Jago, in: ZfdPh, 130ster Band 2011, 4tes Heft.
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Neuerscheinung:
From Doodlebug to Oppenheimer
An Analysis of Christopher Nolan’s Film Work
Edition Axel Menges
English
251 illustrations
ISBN 978-3-86905-037-9
October 2024
erhältlich im Buchhandel und bei Amazon (Link) etc.
Abstract:
The analysis of the corpus formed by Christopher Nolan’s film works allows us to derive its poetics. The key to this is provided by the magic trick script in The Prestige that influences all of Nolan’s post-Insomnia films. Inception is an allegory of filmmaking entirely shaped by the script of magic tricks. The Joker in The Dark Knight turns out to be the embodiment of neoliberalism, and in The Dark Knight Rises, we see Bane, a populist who benefits from the destruction that neoliberalism wreaks. Interstellar and Tenet are about how humanity reacts to the climate catastrophe: in Interstellar, all that remains for humanity is to flee into space; in Tenet, Nolan has future generations fight back against the present, because we are destroying their essential conditions for life. With the nuclear bomb, the protagonist of Oppenheimer gives humanity the power to destroy itself. In doing so, he not only heralds the atomic age but also the Anthropocene. Thus, the analysis shows how outstanding Nolan’s films are, but they also prove to be surprisingly political.
Other key topics in this analysis include: the attack on the Kiev Opera in Tenet and the Russian war of aggression against Ukraine; the references in Inception to Andrei Tarkovsky’s Solaris; the relationship of the dead female characters in Nolan’s films to Edgar Allan Poe’s The Philosophy of Composition; the transformation of the canary birds of The Prestige into planes in Nolan’s later films; how the escape from Earth in Interstellar is complemented by the evacuation in Dunkirk; the interdependencies between Interstellar and Zack Snyder’s Man of Steel; how neoliberalism is reflected in Michael Mann’s Thief; what it means that Nolan casts his daughter Flora in the role of a refugee in Interstellar and in the role of an atomic bomb victim in Oppenheimer; and the allusions in Tenet to the James Bond film Skyfall.
Because of this last point, there is a digression that deals with Skyfall. Against the background of changing gender relations, Bond is looking for a new identity. The homosexuality of the villain Silva is a cipher for misogyny, and Silva’s femicide of Sévérine is a reference to the death of Joan Vollmer Burroughs. The study includes an explanation of why Bond has to do without his Beretta in Dr. No and is instead accompanied throughout his film series by the ›triumvirate‹ of the Walther PPK, the Aston Martin, and the Vodka Martini. These findings are looked at in relation to Daniel Craig’s subsequent Bond films.
Free extract at:
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Abstract:
Christopher Nolans Werk bildet ein Corpus, aus dessen Analyse sich seine Poetik ableiten lässt. Den Schlüssel dazu stellen The Prestige und das Skript der Zaubertricks dar. Sämtliche Filme Nolans nach Insomnia sind davon geprägt: Es geht um Tricks, Täuschung und den Versuch, die Welt von Neuem zu verzaubern. Nolan verbindet dies mit weiteren Themen: Inception stellt eine Allegorie aufs Filmemachen dar. Der Joker in The Dark Knight erweist sich als Verkörperung des Neoliberalismus, und mit Bane profitiert in The Dark Knight Rises ein Populist von der Zerstörung, die der Neoliberalismus anrichtet. In Interstellar und Tenet geht es darum, wie die Menschheit auf die Klimakatastrophe reagiert: In Interstellar bleibt ihr nur die Flucht ins All; in Tenet wird die Gegenwart von künftigen Generationen attackiert, weil wir ihre Lebensgrundlagen zerstören. Mit der Atombombe gibt der Protagonist von Oppenheimer der Menschheit die Macht, sich selbst zu zerstören. Damit läutet er nicht nur das Nuklearzeitalter ein, sondern auch das Anthropozän.
Weitere zentrale Themen der Analyse sind unter anderem: der Angriff auf die Kiewer Oper in Tenet und der russische Angriffskrieg 2022 gegen die Ukraïne; die Bezüge in Inception auf Solaris von Andrei Tarkowski; die toten Frauenfiguren in Nolans Filmen in Relation zu Edgar Allan Poes The Philosophy of Composition; in den Flugzeugen in Nolans Filmen sind die Kanarienvögel aus The Prestige transformiert; die Flucht von der Erde in Interstellar wird von der Evakuierung in Dunkirk ergänzt; die Wechselbeziehungen zwischen Interstellar und Zack Snyders Man of Steel; der Neoliberalismus wird in Michael Manns Thriller Thief gespiegelt; die Anspielungen in Tenet auf den James-Bond-Film Skyfall, und was es bedeutet, dass Nolan in Interstellar die Rolle einer Fliehenden und in Oppenheimer die eines Atombombenopfers mit seiner Tochter Flora besetzt.
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Neuerscheinung:
Elias Canettis Poetik der Masse
konrad kirsch verlag
eBook
ISBN 978-3-929844-35-1
Dezember 2024
erhältlich bei Apple Books, Google Play (Link) etc.
Abstract:
Elias Canettis Poetik ist darauf ausgerichtet, den Tod in all seinen Erscheinungsformen zu bekämpfen. Umgekehrt will er mittels eines poetischen Animismus potentiell die gesamte Welt beleben.
Mit der Episode um den Schmied Jean gibt Canetti die hypertextuelle Lektüre zur Analyse seines Romans Die Blendung vor. Dies liefert den Rahmen für die Betrachtung von vier Aspekten der Blendung: Kiens Bezug zum ersten chinesischen Kaiser Shi-Hoang-Ti und zum chinesischen Ahnenkult; Kien transformiert die Tod-Figur des Totentanzes und des Motivs Der Tod und das Mädchen; in den »Gorilla« der Blendung sind Rousseaus Naturmensch und King Kong eingegangen; schließlich: King Kong als Film über den Versuch eines Ausgegrenzten, sich zu integrieren, und dessen Einfluss auf die Gestaltung des Juden Fischerle in der Blendung. Abschließend wird die Messer-Metapher in Canettis Werk betrachtet.
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Abstract:
Mehr als in vergleichbaren Filmen geht es in der James-Bond-Reihe um Männer- und Frauenbilder. Vor dem Hintergrund der sich wandelnden Geschlechterverhältnisse sucht James Bond in Skyfall nach einer neuen Identität. Die Homosexualität des Schurken Silva ist eine Chiffre für Misogynie, und sein Femizid an Sévérine rekurriert auf den Tod von Joan Vollmer, die William S. Burroughs erschoss.
Daraus leitet sich auch der Untertitel des eBooks ab: Der künftige Beatpoet William S. Burroughs tötete tragischerweise seine Frau Joan Vollmer, als sie volltrunken den Wilhelm-Tell-Schuss nachstellen wollten. Hier verunglückte ein in Szene gesetzter Scherz, da Burroughs den englischen Titel von Schillers Drama offenbar als Aufforderung zu erzählen verstand: William, tell! Nach eigenem Bekunden wurde William S. Burroughs erst durch den Tod seiner Frau Joan Vollmer zum Schriftsteller.
Die Untersuchung klärt des weiteren, weshalb Bond in Dr. No auf die von ihm bevorzugte Pistole, eine Beretta, verzichten muss und stattdessen von dem ›Triumvirat‹ Walther PPK, Aston Martin und Wodka Martini durch die Filmreihe begleitet wird. Diese Befunde werden in Bezug zu Spectre und No Time to Die gesetzt.
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Filmanalyse: Nolan
Die Zukunft schlägt zurück – Der Klimakrieg in Christopher Nolans Tenet
im Kontext seiner bisherigen Filme nebst einer Abschweifung zu Skyfall unter Berücksichtigung von ›William, tell‹ Burroughs
konrad kirsch verlag
eBook
ISBN 978-3-929844-32-0
2022
Auszug aus dem Text:
Die arenaartige Staffelung der Publikumsränge lässt erahnen, dass das Konzert nicht stattfinden wird. Festlich gekleidete Menschen nehmen Platz, hinter ihnen wird eine schalldichte Konstruktion herabgelassen, die den Konzertsaal wie eine Mauer umschließt. Die Musiker der ukrainischen Nationaloper überprüfen ein letztes Mal ihre Instrumente, bis der Dirigent mit dem Taktstock gegen das Notenpult schlägt. Ein Moment des Innehaltens. Doch in die Stille entfalten sich nicht Harmonien: Harte Schüsse fallen, vermummte Söldner werfen die Musiker brutal zu Boden, zertreten ihre Instrumente und drangsalieren das Publikum. Von außen dringt ein gleichfalls maskiertes Einsatzteam ins Opernhaus und leitet Gas in den Konzertsaal. Einer von ihnen wird sich als der Protagonist (John David Washington) von Tenet erweisen. Er evakuiert eine Person aus der Gefahrenzone und sichert einen obskuren Gegenstand vor den Söldnern, die im Dienst des russischen Waffenhändlers Andrei Sator (Kenneth Branagh) stehen. Als wären die gleichzeitigen Angriffe zweier bewaffneter Gruppen nicht verwirrend genug, wird dem namenlos bleibenden Protagonisten von einem Unbekannten das Leben gerettet. Einzig über eine kleine Messingscheibe, die an seinem Rucksack baumelt, wird gegen Ende des Films aufgelöst, dass es sich bei ihm um Neil (Robert Pattinson) handelt, der ersten Figur, die das Thema Freundschaft in Christopher Nolans Filme einträgt. Um all dies bereits beim ersten Anschauen von Tenet zu erfassen, muss man ziemlich genau zusehen.
»Sehen Sie auch genau zu?« – mit dieser Frage aus dem Off beginnt Christopher Nolans Film The Prestige, der knapp eineinhalb Jahrzehnte vor Tenet erschien.
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Venus mit Möwen und Krähen oder:
Über strukturelle Vogel-Probleme in Alfred Hitchcocks Film Die Vögel
in: Managing Structural Bird Problems, herausgegeben von den Philosophischen Bauern Ursula Achternkamp, Holger Heubner, Helmut Kraus, Nina Reisinger und Jürgen Willinghöfer.
2013
Auszug aus dem Text:
Mit den Vögeln, die wie besessen auf Menschen einhacken und einen ganzen Ort terrorisieren, hat Alfred Hitchcock eine Ikone des Horrorkinos geschaffen. In Horrorfilmen geht es um Kontrollverluste. Sie werden meist dadurch ausgelöst, dass etwas Phantastisches in die vertraute Welt einbricht und die Herrschaft an sich zu reißen droht.
Wie kein anderes Genre erzählt der Horrorfilm von den Ängsten und Lüsten, die damit verbunden sind, und von den Versuchen, das Phantastische aus der Welt zu vertreiben, um die verlorene Herrschaft über die Welt wiederzuerlangen.
Doch Die Vögel (1963) unterscheidet sich von den meisten Horrorfilmen dadurch, dass beide Elemente miteinander verschränkt sind: Aus dem Kontrollverlust wird ein Mittel der Disziplinierung. Außerdem überkreuzt sich in Die Vögel der Horror- mit einem Liebesfilm, denn die Liebe von Melanie und Mitch löst in manchen Panik aus.
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Der zweite Blick / A Second Look
Hitchcock: The Birds, Edwards: The Party, Scott: Blade Runner, Ruzowitzky: Anatomie, Scott: Gladiator
Edition Axel Menges
Deutsch / English
220 Abb. / illus.
ISBN 978-3-936681-54-3
2013
erhältlich im Buchhandel oder bei Amazon (Link) etc.
Abstract:
Like literary texts, films often tell stories on multiple levels. Ridley Scott made an ironic reference to this when he called his legendary science-fiction film Blade Runner a »700-layer cake«. These buried structures are created in two ways: by elements that resonate throughout the film itself and by references to other films, texts, myths, paintings, historical events etc. that are adapted in a specific way by the director, the scriptwriter and the production team.
The heroine in Hitchcock’s film The Birds, for instance, is a modern Aphrodite/Venus. Just as Venus, born from the sea foam, was carried to land on a seashell, Melanie is carried across Bodega Bay in a boat that is not much bigger than Venus’ vessel in Botticelli’s painting. Melanie’s name is another reference to Aphrodite, who was also known as Melaina, the black one. In the fist scene of the film, in which she enters the pet shop where she later gets to know Mitch and buys the love birds, Melanie is also dressed in black.
The Venus-like Melanie is felt to be a threat by others within her world, and especially by more conventional women. One of them screams at her hysterically: »I think you’re evil! Evil!« This creates a particular connection between love and horror in the film. The classical Aphrodite also had a dark side – her union with Ares produced not only Harmonia, but also Deimos and Phobos: ›dread‹ and ›fear‹.
Detecting hidden references is only the first step in creating an analysis; the next step is to elucidate the function of the reference within the film. For instance, what does it mean that Hitchcock’s heroine is attacked by birds, whereas Venus was depicted accompanied by a dove? And why does Melanie, our »Venus«, wear furs?
Kirsch’s investigations of this and other questions open up new perspectives on a number of films, with extensive illustrations allowing the reader to follow these in detail. The book invites us to take a second look at The Birds, Blake Edwards’ The Party, Ridley Scott’s Blade Runner and Gladiator and Stefan Ruzowitzky’s Anatomy.
Free extract at:
»In all, Kirsch has provided a superlative model for assessing the divisions of contemporary film thematics. […]
This volume is a useful, perhaps indispensable, contribution to the wider postmodernist debate pursued in film, a field still barely represented in recent museum and gallery exhibitions: but it is now humming for sure with both students and schools, in this world of instant electronic referencing and accessibility to other precedent and text.«
Michael Spens in Studio International 19/03/2014
http://studiointernational.com/index.php/architecture-film-and-postmodern-culture
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Praktizierte Feindesliebe: Romeo und Julia
konrad kirsch verlag
ISBN 978-3-989244-29-0
2007
Loving the Enemy Put Into Practice: Romeo and Juliet – Abstract:
William Shakespeare’s tragedy Romeo and Juliet playfully examines Christian principles under ›real world‹ conditions. Baz Luhrmann’s film version Romeo + Juliet emphasizes the Christian subtext, as the cross-like plus-sign in the title clearly indicates.
Romeo and Juliet follow the commandment of loving the enemy. However, even in a Christian world, love for the enemy is forbidden. The clash of a Christian principle with the reality of Christianity is the tragic core of Shakespeare’s drama.
Thus, the actual conflict that is played out in the drama is not the conflict between the Capulets and the Montagues, but the conflict between the lovers and their hostile families: between love and hate. Friar Laurence supports the lovers because he recognizes that Romeo and Juliet have turned hate to love. This could offer more than just a model for reconciling their families. »There is no world without [outside] Verona walls«: the city of Verona is equal to the world. Thus, if it were possible »to turn […] rancour to pure love« in Verona, the reconciliation of the world would be the consequence.
These hyperbolic expectations have a precedent in real life: the feud of the Capulets and the Montagues is a transformed version of the Wars of the Roses, which ended with the marriage of Henry VII of the House of Lancaster and Elisabeth of the House of York. According to the Tudor myth, this marriage marked the beginning of a golden age, just as the marriage of Romeo and Juliet would make paradise on earth possible.
At the beginning of the drama, Romeo has not yet found his role. This changes when he meets Juliet: he drops his last name and is newly baptized as the lover. However, he holds a double role: Romeo is also depicted as a Christ character. As Christ, he is the god of love, and that is why Juliet has to fall in love with him.
Some further subjects: the geometry of love, the lark and the nightingale in Gethsemane, Mantua as the realm of the dead, Juliet’s resurrection, the Christian and the Ancient Greek/pagan principle, the Prince and the Friar versus Fortuna and Coincidence, the third covenant, the exchanged letter, Mercutio’s curse, and the plague.
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Elias Canettis Poetik der Masse, der »Gorilla«, Fischerle und King Kong
in: Interkulturalität und Intertextualität. Elias Canetti und Zeitgenossen, herausgegeben von Maja Razbojnikova-Frateva und Hans-Gerd Winter
Thelem
ISBN 978-3-939888-21-5
2007
Auszug aus dem Text:
Seit Jean-Jacques Rousseau den Zivilisierten als einen degenerierten Naturmenschen entworfen hat, tritt der Naturmensch immer wieder als Affe in der Literatur auf. Beispielsweise in Franz Kafkas Erzählung Ein Bericht an eine Akademie oder in Gustave Flauberts Djalioh, in Edgar Allan Poes Morde in der Rue Morgue, in Leopold von Sacher-Masochs Geschichte Der Liebesbeweis oder auch in Wilhelm Buschs Fipps der Affe.
Auch in Elias Canettis Roman Die Blendung tritt eine Figur auf, die nur als der »Gorilla« bezeichnet wird. Neben Rousseaus Naturmensch und die von ihm abgeleiteten Affenfiguren ist in Canettis »Gorilla« ein anderer legendärer Affe eingegangen.
In seinen urwaldartigen Räumen lebt der »Gorilla« mit einer Pflegerin zusammen, die von der Familie vor der Öffentlichkeit als dessen »Sekretärin« ausgegeben wird. Mit ihr hat der »Gorilla« offenkundig ein Liebesverhältnis. – Ein Gorilla, der ein Liebesverhältnis mit einer Frau hat?
Im März 1933, also zwei Jahre vor Veröffentlichung der Blendung, erschien in den amerikanischen Kinos der Film King Kong und die weiße Frau. Der Film war bekanntlich auch international sehr erfolgreich und kam bereits im Dezember 1933 in deutschsprachige Kinos.
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Von Orwell lernen, heißt siegen lernen: Das Leben der Anderen
trifolium 6
2007
Auszug aus dem Text:
Ein Uniformierter führt einen Häftling durch den Flur eines Gefängnisses, rote Lampen leuchten auf, eine Warnhupe trötet. Der Beamte befiehlt dem Häftling stehenzubleiben und den Kopf zu senken. Ein zweiter Uniformierter führt einen anderen Häftling durch einen Quergang. Nachdem sie vorrübergegangen sind, verlöschen die Lampen, die Hupe verstummt, und der erste Beamte geht mit dem Häftling weiter. Ein Untertitel zeigt an, dass die Handlung des Films im November 1984 einsetzt, ein zweiter, dass sie im Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen beginnt.
1984 in der DDR – diese Angaben legen bereits in der ersten Einstellung offen, dass in Das Leben der Anderen (BRD 2006) George Orwells Roman auf die DDR projiziert wird. Das mag auf den ersten Blick verwundern, da der Geschichte, die Florian Henckel von Donnersmarck (Buch und Regie) seine Figuren erleben lässt, eine fast dokumentar-historische Basis zugrundeliegt.
Orwell hat mit 1984 eine Analyse totalitärer Regime im allgemeinen und des stalinistischen im besonderen vorgenommen und verlegt sie als negative Utopie in die Zukunft. Im Jahr 2006 ist ›diese Zukunft‹ bereits vergangen – und so bricht Henckel von Donnersmarck Orwells Dystopie auf das tatsächliche Jahr 1984 herunter.
Bezogen auf die Gattung führt dies dazu, dass die Verschiebung von der Raum- zur Zeitutopie um die Volte erweitert wird, dass die Utopie nicht nur konkret verortet wird, sondern auch bereits stattgefunden hat – nicht nur als Gedankenspiel, sondern real.
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Die Masse der Bücher
Eine hypertextuelle Lektüre von Elias Canettis Poetik und seines Romans Die Blendung
konrad kirsch verlag
ISBN 3-929844-22-2
2006
»Die Studie rekonstruiert anhand der zentralen, oft untersuchten Begriffe wie Masse, Verwandlung, Überleben usw. Canettis Poetik, die als dualistisches und seit den frühen 1930er Jahren einheitliches System verstanden wird. Zum Verständnis der Blendung wird Intertextualität als konstitutiv erachtet; nach Genettes Modell wird der Roman als Hypertext aufgefasst, in dem zahlreiche Hypotexte fortwirken, satirisch, spielerisch oder ernst transformiert.
Der Verf. bringt diese Transformationen trefflich auf Begriffe, die teilweise aus Aufzeichnungen Canettis gewonnen werden: Von Umstülpen, Verknappen, Übertreiben, »Partagierung« (S. 34) – der Verteilung des Hypotexts auf mehrere Figuren – und »Amphibolie« (S. 35) – dem erzeugen von Mehr-, ja Meistdeutigkeit – ist die Rede.
Die wichtigsten literarischen und philosophischen Hypotexte der Blendung werden in ihrer Bedeutung für den Roman dargestellt; darunter auch zwei bislang übersehene Hypotexte, J. Goldsteins Wandlungen in der Philosophie der Gegenwart (1911) und der erste King Kong-Film (1933), der sowohl im Gorilla des Romans stecken könnte als auch in Fischerles gescheitertem amerikanischem Traum – allerdings soll Canettis Manuskript 1931 beendet gewesen sein.
Die Monographie ist als systematische Enzyklopädie der Blendung-Prätexte hilfreich, wenngleich Canettis Poetik etwas starr aufgefasst wird und die Forschung nur bis 2001 eingearbeitet ist.«
Sven Hanuschek in Die Germanistik (Bd. 49 2008, Heft 1-2)
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Replik auf Katrin A. Schneiders Verriss meiner Dissertation Die Masse der Bücher in literaturkritik.de Nr. 4, April 2007
Sehr geehrte Redaktion,
»Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?«, musste schon Lichtenberg fragen.
Ihre Rezensentin ist offenkundig vom unbedingten Willen zum Verriss geleitet – was zur Folge hat, dass die gegen mich erhobenen Vorwürfe der Blendung und der mangelnden Sorgfalt auf sie selbst zurückfallen.
So erfahren Ihre Leserinnen und Leser – wenn überhaupt – nur sehr ungenügend, worum es in meiner Arbeit geht. Canetti und Intertextualität, ja – aber wie hängt beides miteinander zusammen? Hat die Inter- oder besser: Hypertextualität bei Canetti eine spezifische Funktion? Setzt er mit ihr seine Poetik um? Wie stellt sich diese Poetik dar? Lässt sich Canettis Werk über die Texte, auf die er sich bezieht, kontextualisieren – historisch, literarisch, philosophisch?
Keine dieser Fragen wird von Ihrer Rezensentin behandelt.
Statt dessen stellt sie Behauptungen auf, die sie nicht oder wenig stichhaltig belegt, und wenn sie argumentativ vorgeht, dann verfährt sie rein formalistisch, sie bläht kleine Ungenauigkeiten auf und macht ihre Kritik an einzelnen Punkten fest, die sie willkürlich herauspickt oder aus dem Zusammenhang reißt – und praktiziert damit, was sie mir vorwirft. Auf diese Weise enthält sie Ihren Leserinnen und Lesern die Konzeption des Projekts vor und entstellt seine Durchführung.
Dabei ist es gar nicht so schwer.
Für Canetti geht es immer um Leben oder Tod. Der Tod ist sein größter Feind, und ihm kann man nur entrinnen, indem man sich permanent verwandelt. Das heißt, über je mehr Identitäten man verfügt, desto ferner ist man dem Tod. Der Ort, an dem diese Identitäten versammelt sind, ist die Masse. Das macht sie zu Canettis Utopie.
Er verräumlicht psychische Vorgänge und faßt umgekehrt körperliche Prozesse psychisch auf. Es gibt folglich nicht nur eine äußere Masse, sondern auch eine innere, psychische: die »Masse in uns«, wie es in der Blendung heißt. Aufgabe des Dichters ist es, mittels der Literatur diese innere Masse zu vergrößern und so das Lebenspotential des Lesers zu steigern.
Was für den Menschen gilt, gilt strukturell auch für Canettis Figuren: Auch in ihnen sind andere Figuren versammelt, auch sie haben eine Masse in sich, bestehend aus den Figuren der Weltliteratur. Die Konzeption seiner Figuren legt Canetti in dem Alptraum des Protagonisten der Blendung offen: »Da zückt der rechte Jaguar einen Steinkeil und stößt ihn dem Opfer« – also Kien – »mitten ins Herz. […] Entsetzlich: aus der aufgerissenen Brust springt ein Buch hervor […] Das Opfer reißt die Brust weit, weit auseinander. Bücher, Bücher kollern hervor. Dutzende, hunderte, sie sind nicht zu zählen […]«. Kien besteht also aus einer – Masse – von Büchern; sie machen das »Herz« von Canettis Figuren aus.
Mit diesen Büchern und ihrer Funktion beschäftigt sich der zweite Teil meiner Arbeit: die hypertextuelle Lektüre der Blendung und Canettis Poetik.
Einige der dort behandelten Autoren, Stoffe und Motive sind: Platon, Rousseau, Hobbes, King Kong, Sophokles, die Bibliothek von Alexandria, Freud, Dante, Aristoteles, Giordano Bruno, Don Giovanni und der Steinerne Gast, der Totentanz, die Himmelsleiter, der Ur-Adam, Bergson und die Lebensphilosophie, Shi Hoang Ti, die Chinesische Mauer und chinesische Begräbnisriten, der Erste Weltkrieg und der Volkskörper, Pinel, die Französische Revolution, Dionysos und die Frühromantik.
Mit schönem Gruß
http://www.literaturkritik.de/public/mails/rezbriefe.php?rid=10588#842
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In der Geisterwelt: Kafkas Affe und Der Verschollene
konrad kirsch verlag
ISBN 978-3-929844-20-7
2004
Auszug aus dem Text:
Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie schildert, wie der Affe Rotpeter zum Menschen und schließlich zum Varietékünstler wird. Das Thema der Erzählung ist also die Künstlergenese, deren Voraussetzung die Menschwerdung ist. Auch Rousseau verfasste ›einen Bericht für eine Akademie‹, an die von Dijon. So ist bereits der Titel von Kafkas Erzählung eine deutliche Anspielung auf den Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes. In ihm entwickelt Rousseau das Konzept des Naturmenschen, der seiner Ansicht nach mit jenen Menschenaffen identisch ist, von denen zeitgenössische Übersee-Reisende berichten. Aufgrund der Eigenschaft des Menschen sich zu vervollkommnen sei aus diesem Affenmensch der Zivilisierte hervorgegangen. Dem Muster dieser Entwicklung folgt die Künstlergenese in Kafkas Ein Bericht für eine Akademie.
Der Bericht nimmt u.a. auf einen zweiten Text Bezug. Bei seiner Gefangennahme wird der Affe Rotpeter angeschossen und nach Ansicht des Verfassers getötet. Dem entsprechend ist das Schiff, das Rotpeter nach Europa bringt, eine Totenbarke. In Himmel und Hölle beschreibt Emanuel Swedenborg das Dasein der menschlichen Geister im Jenseits: Dass sie nicht wissen, dass sie tot sind; dass dort jeder sein innerstes Wesen offenbart und so sein ›eigentliches Leben‹ lebt: als Engel oder Teufel. Bei seiner Umgestaltung stehen ihm jene zur Seite, die bereits Engel oder Teufel sind – wie die Matrosen, die Rotpeter bei seiner Mensch- und Künstlerwerdung helfen und ihm in Form hochprozentiger Spirituosen den Heiligen Geist eintrichtern.
Auch Kafkas Amerika-Roman Der Verschollene lässt sich mit Swedenborg neu lesen. Karl Rossmann wurde »umgebracht«, wie Kafka in seinem Tagebuch festhält, und gelangt auf einer Totenbarke nach Amerika: in die neue Welt, ins Jenseits, wo er wie der Affe Rotpeter ein »neue[s] Leben« beginnt. Als erstes muss Rossmann Englisch lernen – die Sprache der Engel. Im folgenden trifft er auf gute und böse Geister; vor allem Delamarche und Robinson wollen ihn in ihre Hölle hinabziehen, wo Brunelda ihr ebenso skurriles wie grausames Regiment führt.
Rossmann kann entkommen, und menschliche Engel weisen ihm den Weg: »hunderte Frauen als Engel gekleidet in weißen Tüchern mit großen Flügeln am Rücken[, die] auf langen goldglänzenden Trompeten bliesen«. Im Theater von Oklahoma gerät Rossmann in eine jener bürokratischen Prozeduren, die für Kafka typisch sind. Bei ihrer Gestaltung greift Kafka ebenfalls auf Swedenborgsche Motive und Strukturen zurück. Das gleiche gilt für die Künstlermotivik im Verschollenen, denn das Reich, in dem das göttliche Genie residiert, ist der Himmel.
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Am Galgenstrick
Zur Struktur von David Lynchs Lost Highway
trifolium 2
2004
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Auf der Himmelsleiter: Robert Walsers Jakob von Gunten
konrad kirsch verlag
ISBN 3-929844-19-2
2004
Abstract:
In der Himmelsleiter wird die Struktur von Robert Walsers Erzählung Jakob von Gunten untersucht. Außer den binnentextuellen Motiven und Korrespondenzen mit anderen Texten Walsers erweisen sich die intertextuellen Bezüge der Erzählung hierfür als Schlüssel.
Jakob von Gunten ist neben anderem eine Künstlergeschichte. Ihr ist die Geschichte des biblischen Jakob unterlegt, der Walser das Motiv der Himmelsleiter entlehnt. Diese Leiter ist in den Namen des Protagonisten eingeschrieben: Jakob von Gunten kommt »von ganz unten«, wie es in der Erzählung heißt, und will nach ganz oben. Wie der alttestamentliche Jakob schließt er nach heftigem Ringen einen Bund mit Gott – und zieht mit ihm in die Wüste, fern allen Kulturbetriebs.
Auf einer zweiten Ebene ist die Erzählung von den Jenseitsvisionen Emanuel Swedenborgs geprägt. So ist die eigentümliche Welt der Dienerschule der Swedenborgschen Geisterwelt nachgebildet, und die Art und Weise, wie einige Figuren der Erzählung auftreten, entspricht dem, was Swedenborg über das Verhalten der Engel und Geister zu berichten weiß. In einem weiteren Abschnitt werden die Korrespondenzen von Jakob von Gunten und einer kurzen Geschichte Walsers, Die Buben Wiebel, betrachtet. Durch sie erweist sich die Erzählung auch als Hommage an die republikanische Schweiz.
Weitere untersuchte Themen und Rekurse sind: Jakob von Gunten als Bildungsroman, das Motiv der Leiter und die Dialektik von oben und unten, Angelus Silesius und das Gottesbild der Mystik, das Lachen bei Henri Bergson, Walsers Kulturkritik und Elemente aus Dantes Göttlicher Komödie.
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Zwei Blendungen in der Blendung: Canetti, Platon und Sophokles
Zeitschrift für deutsche Philologie, 123. Bd., Heft 4 / 2004
Abstract:
In his novel Die Blendung (Auto-da-fe), Canetti takes up central motifs of Plato’s cave parabel and caricatures his prototype of the philosopher in the figure of Kien. As Kien commits suicide, Canetti lets Platonic idealism die with him. Canetti’s poetics can thus be deciphered as a counterconcept to Plato’s idealism and his notion of the crowd as a counterconcept to the Platonic state.
All the relations between the figures in Auto-da-fe follow the Oedipus pattern. But the person who is blinded is not the one who commits incest, but the one who reads forbidden ›scientific‹ literature, like the Anti-Oedipus Kien. In this transposition of the Oedipus material, the sphinx embodies Canetti’s poetic principle of metamorphosis. With Kien’s brother Georges there appears a second Anti-Oedipus, who does not wish to solve her riddle, but to become a sphinx himself.
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Canetti und Rousseau
konrad kirsch verlag
ISBN 978-3-929844-13-9
2002
Auszug aus dem Text:
Peter Kien, der Protagonist in Elias Canettis Roman Die Blendung, verbringt fast den gesamten Tag in seiner Bibliothek. Nur in den Morgenstunden unternimmt der Gelehrte täglich einen kleinen Spaziergang, um die Auslagen der umliegenden Buchhandlungen zu begutachten. Die Begebenheiten, die sich auf diesen Ausflügen in die Welt der »Analphabeten« zutragen, verzeichnet Kien in einem Notizbuch, das er irgendwann einmal unter dem Titel »Spaziergänge eines Sinologen« zu veröffentlichen gedenkt.
Mit diesem Titel spielt Canetti gleich zu Beginn seines Romans auf Jean-Jacques Rousseau an. Doch nicht dessen Band Les rêveries du promeneur solitaire (1782) ist zentral für Die Blendung; der Titel von Kiens Notizbuch dient lediglich dazu, auf Rousseau im allgemeinen zu verweisen. Vielschichtigen Bezug nimmt Canetti hingegen auf dessen Discours sur l´origine et les fondemens de l´inégalité parmi les hommes (1755).
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Vom Autor zum Autosalvator: Georg Büchners Lenz
konrad kirsch verlag
ISBN 3-929844-12-5
2001
Abstract:
Die Untersuchung geht von der These aus, dass Büchner in Lenz der Frage nachgeht, weshalb ein Autor sich für Christus hält und glaubt, ein Kind von den Toten erwecken zu können. Lenz betrachtet das Kind als alter ego, – wenn er es wieder zum Leben erweckte, würde er sich selbst von Leid und Tod erlösen.
Büchner lässt ihn sein Leiden auf die Autonomie des Individuums in der Moderne zurückführen. Diese Entwicklung versucht Lenz auf psychischer, ökonomischer und künstlerischer Ebene rückgängig zu machen. Dazu wendet er sich von der Kunst ab und der Religion zu. Im Kunstgespräch überträgt Lenz die Eigenschaften des Kunstwerks auf die Welt und erstellt das Modell für die Erweckung des Kindes.
Gelänge sie, würde sich Lenz als Sohn Gottes erweisen, dessen apokalyptische Wiederkehr die Moderne und das Leiden an ihr hinwegfegte. Dies lässt vermuten, dass Büchner an Lenz seinen Wunsch nach sofortiger Revolution fiktional durchspielt und scheitern lässt. Daran anschließend wird die höchst artifizielle Architektur der Erzählung nachgezeichnet.
Im zweiten Teil des Autosalvators wird gezeigt, dass Lenz und Leonce und Lena komplementär angelegt sind. Die Verbindung beider Texte macht die Namensstruktur deutlich: Leonce ist die romanisierte Version von Lenz und Lena die feminine. Doch im Gegensatz zu Lenz gelingt den beiden Liebenden die wechselseitige Selbsterlösung im alter ego. Aus der Untersuchung der beiden Texte wird das Strukturschema von Erlösung und Mord abgeleitet, das den Schlüssel zu Büchners literarischem Werk liefert, und auf Dantons Tod sowie Woyzeck angewendet. Schließlich wird der mögliche Einfluss Johann Georg Hamanns auf Büchners Werke betrachtet.